📔 Papas Tagebuch

Kapitel 1: Ein Tag zwischen Nähe und Entfernung

30. Mai 2025

Der Tag begann mit einem inneren Durcheinander. Ich hatte mir den Wecker auf 12:15 Uhr gestellt, um loszufahren, obwohl zu Hause noch Aufgaben warteten – Sperrmüll, Ordnung, Abschied.

Der Abend zuvor war ruhig, aber die Stimmung war irgendwie leer. Ich sagte zu Mila, unserem Hund: „Du hast es gut.“ Es war nicht böse gemeint – nur ein Gedanke. Aber die Nähe, die ich meinte, ging verloren. Es tat weh.

Und dann kam Marley – mein kleiner Tiger – noch einmal angelaufen. Im Darth-Vader-Umhang, mit Laserschwert. „Tschüss“ sagte er. Ich habe kaum hingesehen. Jetzt bereue ich es. Weil ich ihn so liebe.

Ich bin in Bad Salzungen. Es ist nah – und doch so weit weg. Ich hoffe, die Werte waren okay. Es gab wieder Unterzuckerungen. Signalverlust. Sorgen.

Aber da ist auch Stolz. Kian – du kämpfst. Du bist stärker, als ich es je war. Und auch wenn ich manchmal nicht da bin: Ich bin immer bei dir.

Ich hab dich tausendmal lieb – dein Papa.

Morgen geht’s weiter. Gute Nacht.


Kapitel 2: Alte Muster, neue Fragen

Juni 2025

Ich habe versucht, alte Strukturen wiederzubeleben. Erinnerungen, Routinen, Ordnung. Es schien kurz zu funktionieren – bis ich alles überfrachtet habe. Zu viel Technik. Zu viele Dateien. Eine Datenflut, die Nicole überforderte. Und ich riss das neue Gerüst selbst wieder ein.

Während ich mich mit Systemen verzettelte, trug Marley weiter seine Last. Schwankende Werte, Erschöpfung – und doch ein stilles Weitermachen. Nicole setzte ihm den Sensor diesmal am Bauch. Es funktioniert besser. Vielleicht ist das symbolisch.

Ich erkenne: Ich bin nicht allein im Kampf. Nicole trägt genauso. Still. Stark. Und manchmal viel zu unsichtbar. Ich will sie auffangen. Und merke gleichzeitig, wie sehr ich selbst gehalten werden müsste.

Marley (Kian), du gehörst in diese Welt. Du bist unser Licht.

Ich hab dich tausendmal lieb – dein Papa.

Und vielleicht ist das der Moment, in dem wir wieder zu einer Familie werden – auf Umwegen, aber gemeinsam. Und vielleicht beginnt genau hier auch mein eigener Aufstieg aus dem Tief.


Kapitel 3: Und trotzdem stehen wir auf

Juni 2025

Auch wenn ich wieder zu Hause bin, gibt es diese leisen Tage. Kein Drama. Kein Streit. Nur Müdigkeit. In mir. In Marley. In allem. Er kam nicht zum Spielen. Kein Laserschwert. Kein Lachen. Nur ein Blick, der sagte: „Papa, ich kann heute nicht.“

Ich habe mich einfach dazugesetzt. Nicht geredet. Nur da gewesen. Und das war alles.

Die Werte? Nicht schlimm. Nicht gut. Nur wieder das ewige Schwanken, das man kaum noch spürt – weil man sich daran gewöhnt. Und trotzdem zerrt es.

Nicole sieht alles. Mich auch. Und ich weiß, dass ich mehr tun müsste. Aber heute war ich einfach nur der, der bleibt. Der sich langsam aus seinem eigenen Tiefpunkt schält. Einer, der nach und nach wieder auftaucht – für die Kinder. Für Nicole. Für sich selbst.

Marley, du hast mich heute nicht gebraucht, um stark zu sein. Sondern um schwach sein zu dürfen. Und das ist vielleicht noch wichtiger.

Dein Papa

Und dieses Mal stehen wir nicht nur auf – wir gehen gemeinsam weiter.


Kapitel 4: Radikale Schritte

Juli 2025

Es herrscht Chaos. Der Sensor piept, dann piept er nicht. Werte sind mal zu hoch, mal zu niedrig, mal gar nicht da. Und dazwischen versuche ich, irgendwie durch den Tag zu kommen.

Wir haben entschieden, einen Neuanfang zu wagen. Radikal. Klar. Ohne Kompromisse. Das Haus wird verkauft. Es geht nicht anders. Ein Makler war da. Die Zahlen sind ehrlich. Es wird nicht viel bleiben – aber vielleicht reicht es für ein echtes "neu".

Mein Projekt SOS-sichtbar steht still. Kein Geld. Kein Rückhalt. Seit sieben Wochen kein Übergangsgeld. Ich bin zahlungsunfähig. Danke, lieber Bund. Aber trotzdem: Ich gebe es nicht auf.

Marley bekommt nun auch sein ADHS-Medikament. Wieder eine neue Baustelle. Und trotzdem: Hoffnung. Ich sehe ihn, wie er morgens mit den Tabletten umgeht. Tapfer. Stark. Wie immer.

Und bald: Urlaub. Marktgrafenheide. Zehn Tage mit dem Wohnwagen. Zehn Tage mit meinen Kindern. Zehn Tage, um einfach zu sein. Wir fahren bald los – und wir brauchen diese Zeit mehr als je zuvor.

Nicole, meine Liebe – ich sehe dich. Ich sehe, wie viel du trägst, wie wenig du klagst und wie oft du selbst unsichtbar wirst im ganzen Chaos. Du bist kein Schatten meiner Geschichte, du bist ihre Kraft.

Ich freue mich. Ich bin bereit.

Dein Papa

Vielleicht beginnt jetzt wirklich etwas Neues. Vielleicht sind wir auf dem Weg dorthin.


Kapitel 5: Ein Moment in der Stadt

14. Juni 2025

Ein ruhiger Spaziergang mit Marley. Nichts Besonderes – einfach unterwegs sein. Durchatmen. Leben.

Er fragt wieder: „Papa, warum ich?“

Ich bleibe ruhig. Keine Ausflüchte. Keine Floskeln. Ich sage nur: „Weil es jetzt so ist. Und weil wir damit leben lernen – jeden Tag.“

Hinter uns eine ältere Dame. Sie hat es mitgehört. Ganz still. Dann spricht sie mich an.

„Das war gut, wie Sie das gesagt haben. Ehrlich. Ruhig. Genau richtig.“

Dann erzählt sie: Ihre Enkelin – damals zehn Jahre alt, heute 28 – lebt auch mit Typ-1-Diabetes. Damals war vieles anders. Weniger Hilfe. Weniger Technik. Mehr Angst.

Und trotzdem: Sie haben es geschafft. Gemeinsam. Als Familie.

In diesem kurzen Moment war da etwas zwischen uns – Verstehen, Mitgefühl, leiser Respekt. Zwei Wege, die sich für einen Augenblick berührten.

Manchmal reicht ein Blick, ein Wort, ein gemeinsames Gefühl – um sich nicht mehr allein zu fühlen.

Dein Papa – von der Reha aus.
Und dieses Mal stehen wir nicht nur da. Wir gehen weiter. Zusammen.


Kapitel 6: Zwischen Baustellen und Hoffnung

Juli 2025

Es sind Tage voller kleiner und großer Kämpfe. Der Sensor funktioniert mal, dann wieder nicht. Werte springen. Nächte sind kurz. Und doch: Wir gehen weiter. Nicht perfekt, aber ehrlich.

Der Neuanfang ist beschlossen. Ein radikaler Schritt, ja – aber nötig. Das alte Haus, das uns so viel bedeutet hat, wird verkauft. Es schmerzt. Aber es befreit auch. Wir können es nicht mehr halten. Und wir müssen auch nicht.

SOS-sichtbar – mein Herzensprojekt – liegt am Boden. Kein Geld. Keine Luft. Kein Signal. Das Übergangsgeld bleibt weiter aus. Sieben Wochen. Es ist schwer. Sehr. Aber ich höre nicht auf zu hoffen.

Marley bekommt sein ADHS-Medikament. Wieder eine neue Herausforderung. Wieder ein Lernen. Und gleichzeitig das tiefe Gefühl: Wir schaffen auch das.

Ich denke an Lias. Wie sehr ich ihn vermisse. Seine Kraft. Sein Lachen. Sein Dickkopf. Ich hoffe, dass er weiß, wie sehr er fehlt.

Bald fahren wir los – Urlaub in Marktgrafenheide. Zehn Tage Wohnwagen, Wald, Wasser, wir. Zehn Tage, um durchzuatmen. Und wenn alles gut läuft: zehn Tage, die uns noch enger zusammenbringen.

Dein Papa

Und vielleicht ist genau das der Anfang vom neuen Wir.

Und manchmal, wenn die Kinder schlafen, sitze ich einfach nur da und höre das leise Surren des Kühlschranks. Es ist das einzige gleichbleibende Geräusch in einer Zeit voller Schwankungen. Nicole schiebt sich leise an mir vorbei. Ihr Blick ist müde, aber sie lächelt. Ich weiß, dass wir gerade alles neu denken müssen – und trotzdem: wir haben uns.

Vielleicht braucht es nicht viel mehr als das, um weiterzumachen.

Dein Papa

Und morgen ist wieder ein neuer Tag. Vielleicht mit Chaos. Vielleicht mit Mut. Wahrscheinlich mit beidem.


Kapitel 7: Ein älterer DiabeTiger

Juli 2025

Heute war wieder so ein Moment, der bleibt. Eigentlich wollten wir nur kurz zum Telefonladen – neben dem McDonald's, wie so oft. Aber dann kam es ganz anders.

Der Inhaber, 58 Jahre alt, kam mit uns ins Gespräch. Er hörte aufmerksam zu, sah Marley an und erzählte plötzlich: Er selbst habe seit seinem elften Lebensjahr Typ-1-Diabetes. Und damals, in der DDR, da gab es nichts – keine Sensoren, keine genauen Messgeräte. "Pi mal Daumen" sei alles gelaufen. Und trotzdem: Er hat's geschafft. Er lebt. Und wie. Mit einem HBA1c von 7,5. Respekt.

Marley hörte ganz still zu. Und später, auf der Rückfahrt, sagte er mit leuchtenden Augen: "Papa, das war sozusagen ein älterer DiabeTiger, oder?" Ich nickte. Und dann kam der Satz, der mich umgehauen hat: "Dann kann ich ja doch alt werden."

Seine Stimme war hell, frei, glücklich. Und ich saß da – voller Dankbarkeit. Für diesen Moment. Für diesen Mann. Für diese Begegnung. Mein kleiner DiabeTiger ist heute ein ganzes Stück stärker geworden.

Dein Papa

Und manchmal reicht ein ehrliches Gespräch, um ein Leben lang Hoffnung zu geben.

Papas Tagebuch

Eintrag vom 23. August 2025

Titel: Ein neuer Anfang

Seit Anfang August ist Marley nun in der Schule. Jeden Morgen begleiten wir ihn – Nicole und ich – beim Frühstück. Es sind ruhige Momente voller Liebe, in denen wir ihm Kraft mitgeben für den Tag.
Die Umstände sind nicht einfach: Eine feste Schulbegleitung gibt es bislang nicht, und das macht vieles unnötig schwer. Aber Marley – unser kleiner Kämpfer – nimmt’s, wie es kommt.
Er lacht. Er lebt. Er gehört dazu – weil er es will. Und weil er es verdient.

Auch bei uns dreht sich das Rad weiter. Lange war unklar, was mit dem Haus passiert. Die Angst, alles zu verlieren, hat schwer auf uns gelegen.
Aber nun ist klar: Meine Mutter und ihr Mann werden das Haus übernehmen.
Für uns bedeutet das keinen Verlust – sondern ein Loslassen.
Ein Freiwerden von einem Palast, der uns einst geschützt hat, aber zuletzt auch zur Last wurde.

Jetzt schaffen wir Raum für Neues.
Ein Umzug liegt vor uns – und mit ihm die Chance auf frischen Wind, auf neue Wurzeln, auf ein Zuhause, das zu unserer jetzigen Lebenssituation passt.
Kein Bruch. Kein Ende. Sondern der Anfang von etwas, das sich endlich wieder richtig anfühlt.

Ein neuer Anfang.
Nicht perfekt. Aber echt. Und vor allem: gemeinsam.

„Manchmal bedeutet Loslassen nicht zu verlieren – sondern endlich frei zu atmen.“

Ein Fenster weiter – unser neues Zuhause

Eintrag vom 25. August 2025

Heute ist es offiziell: Meine Frau hat unterschrieben.
Nicht, dass ich daran gezweifelt hätte – aber genau dieser Moment fühlt sich wie der Startschuss an.
Der Mietvertrag kann jetzt zurückgeschickt werden. Und in meinem Bauch macht sich dieses eine, klare Gefühl breit: Wir haben alles richtig gemacht.

Wir ziehen um. Nicht irgendwann, nicht vielleicht – sondern bald.
Ein neues Zuhause, nicht weit weg von hier – und doch eine ganz andere Welt.

Wir bleiben in der gleichen Ecke, ja, aber diesmal auf der anderen Seite. Und genau das ist gut so. Es ist nicht weit weg – aber es fühlt sich trotzdem an wie ein Neuanfang. Als würden wir einen Raum betreten, der schon lange auf uns gewartet hat. Ohne Stimmen aus dem Flur. Ohne Misstrauen durchs Schlüsselloch. Ohne das Gefühl, ständig auf Zehenspitzen leben zu müssen.

Ich muss dort niemandem mehr gerecht werden – außer meiner Familie. Und mir selbst.

Ich bin 40. Und es wird Zeit, endlich auszuziehen.
Nicht geografisch – sondern innerlich.
Zeit, anzukommen.

Wenn ich heute aus unserem Küchenfenster blicke, sehe ich Bäume, den Rand des Waldes, ein Stück Weite. Bald werde ich – je nachdem, in welchem Zimmer ich gerade bin – in die Aue schauen, auf die Dächer der Stadt oder hinüber zu einem kleinen Hügel, der mich lange geprägt hat. Ein Ort, der vieles gesehen hat – Gutes, Belastendes, aber eben auch das, was war. Und das darf dort bleiben.

Denn diesmal machen wir etwas richtig. Für uns.

Klar wird es Streit geben. Und Tränen. Und all das, was zum Familienleben dazugehört. Aber es wird unser Streit sein. Unsere Tränen. Unser Chaos.
Unsere Freiheit.

Ich freu mich auf das, was kommt.
Denn diesmal ist es unser Anfang.
Und der Blick aus dem Fenster zeigt mir: Wir sind auf dem richtigen Weg.